Von   27. September 2015

Der Puls rast, der Geist ruht

Heute ist Freitag. Freitags ist Wochenmarkt in Hirschegg. Da muss ich gleich früh hin und die Mitbringsel für meine Lieben zu Hause besorgen. Ich decke mich natürlich mit Käse vom Stand der Walser Buura ein, bevor ich kaufen darf, lässt Herbert Edlinger mich alles probieren. Auch der besonders gute Honig von Imkermeister Achim Schneider muss mit, hier muss ich ebenfalls erst probieren, der Honig schmeckt jedes Jahr anders und mein Argument, ich hätte jeden Morgen welchen auf meinem Frühstücksbrötchen, lässt der Imkermeister nicht einfach so gelten. An den Alpenpflanzen kann ich nicht vorbei, also kommen auch noch Edelweiß und Enzian für den eigenen Mittelgebirgsgarten mit. Das Flair auf dem Markt ist sehr familiär, mit den Besuchern ist man per Du, und für meine Pflanzen gibt es sogar schriftliche Pflanz- und Pflegehinweise mit. Das Wetter zeigt sich von seiner besten Seite, also schnell alles ins Quartier bringen und das heutige Wanderprogramm angehen.

Nur eine Stunde nach meinem Einkaufstripp sitze ich in der Kanzelwandbahn. Oben angekommen, entscheide ich mich, heute die große Gratwanderung anzugehen. Auch im Wandergebiet Kanzelwand gibt es unzählige Möglichkeiten, auf die ich hier nur teilweise noch eingehen kann und werde. Mein Vorhaben heute lautet: Von der Kanzelwand über das Fellhorn zum Söllereck und dann über Sölleralpe und Mittelalpe zurück ins Tal.

Zunächst erklimme ich ein paar wenige Höhenmeter zum Aussichtspunkt Rote Wand und genieße den Rundumblick total. Das Kleinwalsertal liegt mir zu Füßen und mein heutiges Wandervorhaben scheint mir auf Augenhöhe zuzuwinken. Mein vor mir liegender Weg ist sehr gut einsehbar. Ich steige ab zum Gundsattel und auf der anderen Seite zum Fellhorn wieder auf. Problemlos lässt sich dieser Weg meistern, den ich auch im letzten Jahr schon gelaufen bin. Am Fellhorn-Gipfelkreuz (2.039 m) halte ich mich nur kurz auf, ich hatte es ja im letzten Jahr bereits umarmt und es waren mir entschieden zu viele Menschen dort. Ich aber suche die Einsamkeit. Also weiter.

In leichtem Auf und Ab folge ich dem schmalen, gut begehbaren Gratweg immer auf dem Kamm entlang, wobei mir bewusst ist, dass ich genau dem Grenzverlauf Österreich – Deutschland folge, denn die Landesgrenze verläuft mit dem Kammweg. Unter mir kann ich den Schlappoldsee bestaunen, den ich im letzten Jahr direkt besucht hatte und in dessen glasklarem Wasser sich das umgebende Bergpanorama spiegelt. Heute verzaubert er mich von oben, von oben kann ich auch sehen, dass es hinter dem Schlappoldsee noch mehrere kleinere Seen gibt.

Was mich noch verzaubert, ist die Blütenpracht und Farbenvielfalt hier oben. Die Region Kanzelwand – Fellhorn führt die Bezeichnung „Blumenberg“ völlig zu Recht. So eine Artenvielfalt, solch ein Blütenreichtum in diesen Höhen, nicht nur hier lohnt es sich, den Blick auch mal auf den Boden zu senken. Mein Weg führt mich weiter zum 1.969 m hohen Schlappoldkopf. Ich mache eine interessante Erfahrung: Der Grat bleibt trocken und gut begehbar, auch wenn es manchmal recht anstrengend ist, aber ich werde immer wieder in Wolken gehüllt. Riezlern sehe ich mal klar, mal durch einen dünnen Wolkenschleier, dann wieder durch Wolkenlücken. Auf der anderen Seite des Grates (also in die Oberstdorfer Richtung) ist das Wetter bedeutend klarer, hier gibt es ungehinderte Sicht. Das Wetter ist also quasi hangseitig geteilt, links wolkig, rechts sonnig. So etwas habe ich auch noch nie gesehen. Die Sicht auf den Weg bleibt aber gut, ich kann meine Wanderung gefahrlos fortsetzen. Mein Weg führt mich weiter über den 1.925 m hohen Söllerkopf bis zum 1.703 m hohen Söllereck. Von hier steige ich relativ steil auf schmalem Pfad ab zur Sölleralpe. Erst am Söllereck lese ich den Hinweis, dass ich die ganze Zeit den Anderl-Heckmair-Gedächtnispfad begangen habe. Anderl Heckmair, der in Oberstdorf lebte, hat als begeisterter Alpinist den Grundsatz vertreten: “Es kommt nicht auf die Leistung, sondern auf das Erlebnis an.” Und ein Erlebnis ist dieser Weg wirklich.

Während ich auf dem gesamten Höhenweg meine Gier nach Einsamkeit ganz hervorragend stillen konnte, begegnen mir jetzt wieder mehr Menschen. An der Sölleralpe kehre ich ein, um meinen Durst zu stillen. Das Innere der Alpe imponiert, urig ist es hier. Während ich mich nach draußen setze und eine Weile verschnaufe, donnert es hinter mir. Hallo, was soll denn das jetzt werden? Bis jetzt war das Wetter doch so angenehm, richtig gutes Wanderwetter – wollte sich da jetzt ein Gewitter ansagen?

Also weiter, der Weg ist noch weit. Hinter der Sölleralpe – ich bin mittlerweile auf bequemem und breitem Bergweg unterwegs und lasse mich auch hier von der Fauna und Flora verzaubern, fallen mir am Wegesrand mehrere Silberdisteln auf.

Silberdisteln sind Wetterindikatorpflanzen. Ist ein Gewitter und somit starker Regen im Anmarsch, schließt die Silberdistel ihren Blütenkopf. “Meine” Silberdisteln sind fest verschlossen. Es donnert auch immer mal wieder, also lieber mal so langsam in die Regenausrüstung steigen, auch wenn die Leute, die vorbeiwandern, während ich mir mitten auf dem Weg die Regenhosen überziehe, mächtig lästern. Die Disteln und ich sollten Recht behalten, wenig später treffe ich die “Lästermäuler” wieder, als sie sich in letzter Sekunde auch regenfest machen müssen.

Am Berghaus am Söller muss ich mich dann doch noch unterstellen, der Regen hat gerade wolkenbruchartigen Charakter angenommen und der Himmel alle Schleusen voll geöffnet. Wenn ich jetzt feige wäre oder wasserscheu, würde ich mit der Söllereckbahn, die gleich in der Nähe ist, abfahren und den Bus zurück ins Kleinwalsertal nehmen. Ich habe mir aber vorgenommen, die komplette Runde zu laufen und werde das auch tun.

Nachdem der Regen nachgelassen bzw. aufgehört hat, mache ich mich auf den Weiterweg. Ich erreiche die Schrattenwangalpe und kurze Zeit später wieder die Landesgrenze. Ein Schritt genügt und ich bin wieder von Deutschland nach Österreich gelaufen. Von der Schrattenwangalpe geht es auf gutem Weg, der absolut familienfreundlich ist, weiter über die Amansalpe zur Mittelalpe. Jetzt holt mich der Regen doch wieder ein und ich flüchte mich in die Mittelalpe vor dem neuerlichen Wasser von oben.

Eine Käsebrotzeit und ein selbstgemachter Joghurt entschädigen mich für das Wetter, die Alpe ist gemütlich, das Personal äußerst nett, hier lässt es sich schon eine Weile aushalten. Einkaufen könnte ich hier auch, die selbstgemachten Produkte der Alpe nämlich, aber das habe ich ja heute früh schon erledigt. Die Mittelalpe liegt auf einer Höhe von 1.350 m, ich habe also seit meinem Start auf der Kanzelwand schon rund 690 Höhenmeter Abstieg hinter mir. Irgendwann beruhigt sich auch das Wetter wieder und als ich vor die Alphütte trete, ruft der Senn gerade seine Kühe in den Stall. Ein faszinierendes Schauspiel, stehen die Tiere doch weit oben am Hang, der Senn benutzt nur seine Stimme und die Tiere folgen seinem Ruf ganz von selbst in den Stall.

Mir fällt die im Kleinwalsertal gelebte Tradition des Alpabtriebs ein, der jährlich am 19. September zum Ende des Alpsommers viele Touristen anzieht. Wie mag das erst sein, wenn nicht nur ein paar Kühe mit ihren großen Glocken um den Hals, sondern ganze Herden sich auf den Weg ins Tal machen?

Senn und Alpmeister Gerhard Hilbrand lässt sich auf der Mittelalpe gelegentlich bei der Käseherstellung auf die Finger schauen und zelebriert alljährlich im September, wenn die ersten Laibe der Saison reif sind, den Käseanstich. Diesem Ritual konnte ich selbst auch schon beiwohnen. Der junge Käse überzeugt mit seinem Geschmack, der Applaus der zahlreichen Gäste auf der Terrasse der Alpe nach der ersten Verkostung spricht Bände. Auch der Romadur ist im ganzen Tal sehr beliebt. Die Produkte der Mittelalpe kann man dort direkt erwerben und so noch ein wenig Urlaubsgeschmack mit nach Hause nehmen.

Ich setze meinen Weg nun fort und steige gemütlich noch einmal gut 300 Höhenmeter abwärts. Über den Riezler Höhenweg gelange ich zurück direkt ins Zentrum von Riezlern und ein erfüllter Wandertag nimmt, wenn auch etwas feucht von oben, sein Ende.

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