Lawinen: ungezähmte Kraft mit Alarmstufe weiß
„Starr und kalt zeigt sich der Winter im Gebirge, der klare Linien in die Landschaft malt. Voller Strahlkraft ist das gleißende Weiß, was sich erhaben und still aufbaut, von den Spuren elementarer Kräfte gezeichnet. Still bleibt es so lange, bis sich die frostigen Ketten sprengen und sich an einem Punkt die ganze Kraft der Natur mit einem Mal entlädt.“(aus dem Film „Die Lawine Ungezähmte Kraft des Schnees“ – Buch und Regie: Mag. Christiane Sprachmann, ORF Tirol)
Schnee ist etwas Schönes. Viel Schnee ist noch viel schöner. Schnee ist ein einzigartiges Element der Natur mit viel Potential. Potential für den Sport, bei dem jedem Skifahrer und Snowboarder das Herz höher schlägt. Potential für die Ruhe, die der Winter- oder Schneeschuhwanderer abseits des Trubels sucht und oft genug auch findet. Aber Schnee hat auch noch ein anderes Potential – das Potential des Gefährlichen. Denn Schnee lebt … so sagt auch der Tiroler Lawinenwarner Rudi Mair in bereits oben genanntem äußerst sehenswertem Film.
Bitterkalt ist es an diesem Wintermorgen Anfang Januar. Über Nacht ist Schnee gefallen – viel Schnee. Seit Stunden sind die Räumdienste unterwegs, um Straßen und Wege von der weißen Pracht zu befreien. Im Talskigebiet an der Kanzelwand gegenüber sieht man früh am Morgen vereinzelte Lichter der Pistenbullys, die den frisch gefallenen Schnee der letzten Nacht auf der Piste nochmal glatt walzen, bevor der Skitag beginnt. Plötzlich ist ein dumpfer Knall zu hören. „Die Gasex-Lawinensprengeinrichtung oben an der Kanzelwand“ – denke ich noch so für mich – „es wird gesprengt, dann kann es ja losgehen“. Nur knapp eine Stunde später lese ich im Internet die neue Verordnung der Gemeinde, die über zahlreiche Sperrungen auf Pisten, Wanderwegen und Loipen informiert und dringend darauf hinweist, dass diese unbedingt zu beachten sind. Sogar die Straße nach Baad ist dicht. Wieso das alles, wie kommt es dazu? Wer bestimmt das?
Zur gleichen Zeit hat an anderer Stelle der Tag für die Lawinenkommission Kleinwalsertal längst begonnen. Einer davon, Rainer Hilbrand, lebt in Mittelberg, wo er ein Sportgeschäft betreibt. Er ist der stellvertretende Leiter der Lawinenkommission und Berg- und Skiführer. Mit ihm haben wir uns getroffen und ein wenig über die interessante und abwechslungsreiche, aber auch nicht ganz ungefährliche Arbeit geplaudert.
Das Potential der Gefährlichkeit des Schnees richtig zu beurteilen und einzuschätzen, das ist die Aufgabe einer Lawinenkommission. Auch im Kleinwalsertal gibt es eine solche Kommission, die dafür zuständig ist, diese Gefahren einzuschätzen und die dann in einem Gutachten Empfehlungen für Sperrungen von Wegen, Pisten, Loipen und Straßen ausspricht, welche von der Gemeinde im Sinne der Sicherheit umgesetzt werden.
Diese Lawinenkommission besteht im Tal aus 8 ehrenamtlich tätigen Personen unter der Leitung von Xander Ritsch, von denen jeder einem normalen Beruf nachgeht und die in ihrem echten Leben auch als Skilehrer, Ski- und Bergführer oder Bergretter arbeiten. Die dabei erworbenen alpinen Kenntnisse und eine intensive Aus- und Weiterbildung zum Thema Lawinen befähigt die Männer schlussendlich dazu, in der Lawinenkommission zu arbeiten.
Sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind gern draußen unterwegs und sie lieben, was sie tun – nur so ist die äußerst verantwortungsvolle Arbeit gut zu machen. Alle sind von der Gemeinde bestellt und arbeiten ehrenamtlich. Sie verfügen über ein umfangreiches Wissen bis hin zu geschichtlichen Kenntnissen – sie kennen ihre Stellen, die lawinengefährdet sind oder wo es in der Vergangenheit große Abgänge gab. Solche Ereignisse wie z. B. das große Lawinenunglück im Winter 1952, wo eine große Lawine vom Ifen über die Melköde im Schwarzwassertal niederging und in der 20 Menschen den Tod fanden, das vorherzusehen und durch rechtzeitiges Eingreifen zu verhindern, das ist ihr Ansinnen.
Der Tag bei Rainer fängt früh an. Bereits um 6 Uhr morgens checkt er die speziellen Apps seines Smartphones, die ihm verlässliche Wetterdaten liefern. Windstärke, Windrichtung, Lufttemperatur, Feuchtigkeit, Niederschlag sind wesentliche Bestandteile. Dann werden die Daten der Messstellen abgerufen, die sich am Walmendingerhorn und am Ifen befinden. Wie viel Schnee ist gefallen, wie ist die Temperatur, wie stark bläst der Wind, der die gefährlichen Verfrachtungen produziert?
Wen es interessiert, der folge diesen Links:
http://warndienste.cnv.at/dibos/lawine/
http://apps.vorarlberg.at/lawinenmessstellen/messstelle.asp?ort=ifen
http://apps.vorarlberg.at/lawinenmessstellen/messstelle.asp?ort=walmendinger_horn
Sind alle Daten gesammelt, geht es raus. Spätestens um 07:30 Uhr fahren sie auf den Berg – auf jeden Berg! Immer sind sie mindestens zu zweit – denn 4 Augen sehen mehr als 2. Und dann wird gehandelt, wenn es nötig ist: mit Sprengungen, die entweder händisch, mit den Gasex-Anlagen oder der Sprengbahn an der Kanzelwand oder dem Sprengmast am Ifen erfolgen. Und wenn nichts anderes mehr hilft oder es um exponierte Stellen geht, wo sonst niemand hinkommt, denn hebt auch der Hubschrauber ab. An Bord ist dann neben einem Mitglied der Lawinenkommission ein ausgebildeter Sprengmeister der Bergbahnen. Danach gefragt, ob es nicht ein flaues Gefühl im Bauch macht, wenn man mit Sprengladungen arbeitet, antwortet Rainer: „Nein, solange da kein Zünder drin steckt, kann überhaupt nichts passieren, und wenn der Zünder drin ist und es ist gezündet, bleiben noch gut und gerne 2 Minuten Zeit, um sich wieder zu entfernen und aus sicherer Entfernung den Erfolg der Maßnahme anzuschauen.“
Das Land Vorarlberg bescheinigt den Männern der Lawinenkommission im Kleinwalsertal eine hervorragende strukturelle und dokumentarische Arbeitsweise. Alles, was sie beobachten, wird protokolliert, alles was sie tun, wird notiert. Zu allem gibt es Protokolle, die die schlussendlich getroffenen Entscheidungen nachvollziehbar machen. Und wenn sie am Morgen ihre erste Arbeit getan haben, dann sitzen sie zusammen und erstellen gemeinsam das Gutachten und die Verordnung, die man dann auf der Seite der Gemeinde, des Tourismusbüro und auch hier bei uns regelmäßig findet. Was gesperrt werden muss oder was wieder aufgemacht werden kann, ist grundsätzlich immer eine Mehrheitsentscheidung des gesamten Teams. Sie stehen zu diesen Entscheidungen und sie wägen immer nach bestem Wissen und Gewissen ab – denn manchmal haben diese Entscheidungen Folgen – Folgen für Hoteliers und Pensionen oder Folgen für den Betrieb einer Alphütte, die sich in einem Seitental befindet und die auch heuer wieder öfter mal geschlossen hat, weil einfach aus Sicherheitsgründen kein Hüttenbetrieb möglich ist.
Lawinenabgang im Bärgunt im Februar 2018 und die Reste im Juni 2018
Eigene praktische Erfahrungen mit Lawinen sollte man nach Möglichkeit vermeiden, denn im schlimmsten Fall kann das tödlich enden. Die Kraft der Natur lässt sich nicht zähmen, bestenfalls ein wenig bändigen. Schnee kennt keine Grenzen, Lawinen schon gar nicht. Die Lawine sucht sich immer ihren eigenen Weg. Nicht alles, was diese tut, lässt sich immer berechnen. Es braucht auch die eigene Beobachtung, gute Ortskenntnis und jahrelange Erfahrung. Die 100-%ige Sicherheit gibt es nie, aber die Männer der Kommission tun alles und wägen ganz genau ab, bevor sie ihre Entscheidungen treffen. Und genau deshalb ist auch eine fundierte Aus- und Weiterbildung ständig an der Tagesordnung und gleichsam wichtig wie anspruchsvoll.
Auf das eigene Risikomanagement angesprochen, sagt mir Rainer: „Natürlich haben auch wir unsere Grenzen. Wenn das Risiko zu hoch wird, müssen auch wir mal unten im Tal bleiben, aber das kommt zum Glück selten vor. Wir handeln lieber einmal mehr vorsorglich etwas eher, bevor wir die ganz großen Bauchschmerzen kriegen, denn wer grob fahrlässig handelt, kann dafür auch haftbar gemacht werden – und wer will das schon? Keiner von uns will doch daran schuld sein, dass irgendetwas passiert – und zum Glück ist in den letzten 35 Jahren auch kein größeres Ereignis mehr vorgefallen.“
Kleine Lawine am Schwarzwasserbach Anrisse, ein sogenanntes „Lawinenmaul“ So kann ein Abgang dann aussehen.
Was sie alle aber ärgert, ist die leider manchmal vorhandene Arroganz – die Arroganz, Sperrmeldungen zu ignorieren. Wer sich in gesperrtem Gebiet bewegt, der muss damit rechnen, dass etwas passiert. Es gibt ein schönes Sprichwort, welches lautet: „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.“ Das ist der schlimmste Fall – aber selbst ein Unfall, der eine Alarmierung der Bergrettung und die Bergung aus solch einer Situation notwendig macht, wäre nicht nötig, wenn man sich an die Sperrmaßnahmen halten würde. Wer will denn dafür verantwortlich sein, dass sich dann auch die Retter in Gefahr begeben müssen, um einem Ignoranten das Leben retten zu müssen oder die diesen im schlimmsten Fall nur noch bergen können? Deshalb können wir uns hier den eindringlich erhobenen Zeigefinger nicht verkneifen.
Die Mitglieder der Lawinenkommission investieren im Laufe des Winters sehr viel persönliche Zeit, um für die Sicherheit von Verkehrswegen, von Pisten, Loipen und Wanderwegen zu sorgen. An uns ist es, dies ernst zu nehmen und mit der nötigen Akzeptanz zu behandeln, schließlich haben alle 8 sich etwas dabei gedacht, wenn sie so entschieden haben, wie sie entschieden haben. Also eine wichtige Bitte an dieser Stelle: Die Verordnungen der Gemeinde, die auf der täglichen Arbeit und einem Gutachten der Lawinenkommission beruhen – bitte nehmt sie ernst, beachtet sie und akzeptiert die Entscheidungen. Es dient zu eurer und zur Sicherheit aller. Und die Männer können diese Arbeit auch nur deshalb machen, weil sie im Hintergrund starke Familien haben, die ihnen den Rücken frei halten für das so wichtige Ehrenamt der Lawinenkommission.
Zum Schluss ein Wort in Sachen „Katastrophenwinter“. Gerade Anfang/Mitte Januar, als in sehr kurzer Zeit sehr viel Schnee gefallen ist, war in vielen Medien dieses Wort zu lesen. Von einem Katastrophenwinter ist man im Kleinwalsertal allerdings weit entfernt. Das, was im Januar hier zu erleben war, ist völlig normal und der einzigartigen Lage des Tales zu verdanken, was ihm seine Schneesicherheit gibt. „Nordstaulage“ heißt das Zauberwort. Diese sorgt dafür, dass es RICHTIG schneit, wenn es einmal schneit. Das heißt unter Umständen auch, dass es mal über Stunden oder Tage intensiv schneien kann, aber deshalb gleich von einer Katastrophensituation zu sprechen, ist sicher oft überzogen. Sachlichkeit ist hier angesagt. Wenn allerdings die Lawinenkommission Straßen, Wege und Pisten sperrt, dann ist das zu beachten – die Jungs haben sich wirklich Gedanken gemacht und ihre Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen gefällt. Wie sagt man so gern: „Es ist halt Winter.“
Mein Respekt gegenüber dem Job bei der Lawinenkommission ist nach unserem Gespräch jedenfalls mächtig gewachsen. Auch im Hinblick auf die Gefahren, denen ihr euch selbstlos ausliefert. Klar habt ihr ein gutes Risikomanagement, eure eigene Sicherheit geht vor – aber noch immer begebt ihr euch im Laufe eines Winters unzählige Male auch in brenzlige Situationen. Gut zu wissen, dass ihr lieber einmal mehr vorsorglich handelt – bevor „man die ganz großen Bauchschmerzen bekommt,“ wie Rainer im Gespräch sagte.
Zum Schluss bleibt noch, DANKE zu sagen. Danke an Rainer für die Zeit, die Du Dir für uns und unser nettes und sehr informatives Gespräch genommen hast. Danke an Xander Ritsch, der dieses Gespräch möglich gemacht hat. Danke an alle Mitglieder der Lawinenkommission, die sehr viel Zeit in ihre ehrenamtliche Arbeit stecken. Und last but not least Danke an alle, die im Kleinwalsertal dafür sorgen, dass man auch im Winter „gut durchkommt“.