Von   20. September 2015

Als am Nachmittag der Anruf aus der Bergschule kam mit dem Termin für den heutigen Vormittag, machte mein Herz ein paar heftige kurze Schläge. Bloß gut, dass ich in diesem Moment im Cafe Kanzelwand saß und nicht umfallen konnte – mit einem Schlag war sie da, diese unheimliche Nervosität vor „dem ersten Mal“. Schon oft habe ich im Fernsehen Beiträge zum Thema Klettersteiggehen verfolgt und immer so ein gewisses Kribbeln in mir verspürt.

Nun wollte ich das selbst endlich auch mal probieren. Welche bessere Möglichkeit gibt es dafür als mein Kleinwalsertal – begleitet von den Profis der Kleinwalsertaler Bergschule. Treffpunkt ist 9.30 Uhr an der Kanzelwandbahn Talstation. Schon hier gibt es das erste Feeling – Holger von der Bergschule erklärt das Klettersteigset und das Anlegen der Ausrüstung. Derart ausgestattet, stürmen wir die Gondeln, begleitet von zahlreichen ungläubigen oder fragenden Blicken der anderen Fahrgäste.

Oben angekommen, geht es zunächst erst einmal ein Stück noch zu Fuß in Richtung Kanzelwandgipfel. An der Einstiegsstelle zum Walser Klettersteig, übrigens ein Anfängersteig mit dem Schwierigkeitsgrad B – erfolgt die nächste Einweisung. Und jetzt heißt es richtig aufpassen, denn es geht um das richtige Verhalten am Seil und die korrekte Sicherung. Einhängen, umhängen, auf den Vordermann Acht geben – all das wird uns nun von Holger, dem Profi, erklärt.

Während um uns herum alles in einem nebulösen Einheitsbrei verschwindet, geht es nun einfach mal los, wobei einfach – wenn man wie ich noch nie klettern war – ein relativ dehnbarer Begriff ist. Die Gruppe ist klein, besteht aus 6 Erwachsenen und einem 12-jährigen Jungen, denn der Walser Klettersteig ist ein Einsteigersteig und bereits für Kinder ab acht Jahren geeignet. Elias geht nach den ausführlichen Erklärungen von Holger auch gleich mal vor und ich bewundere die Leichtigkeit, mit der der Junge in den Steig einsteigt. Ich zögere und reihe mich ziemlich am Schluss ein. Ab jetzt heißt es volle Konzentration – die Augen klettern voraus, hatte Holger uns noch mit auf den Weg gegeben. Aber das ist gar nicht so einfach, weil ich mich immer auf den nächsten Tritt konzentrieren muss. Sichern nicht vergessen, Karabiner dran ans Seil, Karabiner ab vom Seil, wieder einhängen, den nächsten nachholen – und immer wieder schauen, wo ich als nächstes hintrete. Zu Beginn ganz schön viel auf einmal, aber wenn man die Abläufe erst einmal verinnerlicht hat, geht es ganz von selbst. Von nun an geht es stetig durch die Wand, mit Arm- und Beinkraft und jeder Menge Herzklopfen. Und plötzlich bin ich völlig eins mit der Natur, eins mit dem blanken Fels –noch näher dran geht wirklich nicht.

Entlang am nackten Fels, über winzige Tritte, auf Eisenstegen durch steile Felswände, und irgendwo zwischen bizarr geformten Felsen und Felsblöcken wartet plötzlich die Herausforderung schlechthin: Die Burmabridge! Ein Stahlseil über einen Abgrund gespannt, etwa 2 Finger dick, rechts und links zwei Stahlseile zum Festhalten und in Kopfhöhe noch ein weiteres Stahlseil zum Sichern. Da heißt es jetzt wirklich Augen zu und durch, aber im übertragenen Sinne. Wie ein Seiltänzer balanciere ich über das Seil, zum Glück bin ich absolut schwindelfrei, denn unter mir ist nichts als der tiefe Abgrund. Das Wetter spielt zu dieser Zeit seine ganz eigene Sinfonie in Moll, durch wabernden Nebel ist die Sicht nicht besonders gut und in diesem Moment bin ich darüber sogar froh, schießt mir doch gerade durch den Kopf: „Wie gut, dass du jetzt nicht siehst, wie tief du fallen könntest.“ Fallen kann ich natürlich nicht, denn ich bin ja gut gesichert, aber solche Gedanken gehen einem eben durch den Kopf, wenn das Adrenalin überkocht. Erleichtert und auch ein wenig stolz erreiche ich das andere Ende der Brücke. Der Steig erobert die Kanzelwand nicht, er schmeichelt ihr und als der Gipfel erreicht ist, lässt sich der eine oder andere Juchzger nicht vermeiden, das Glücksgefühl ist unbeschreiblich. Und inmitten dieser großartigen Natur und dieses einzigartigen Erlebnisses ist jedes Wort ein Wort zu viel – still genießt jeder für sich dieses einzigartige Erlebnis und das soeben Geschaffte. Auch die Natur ändert die Tonart ihrer Sinfonie nun von Moll auf Dur und gibt ein tolles Bergpanorama im Nebel frei – es verursacht ein völliges Wohlfühlgefühl. Und genau im richtigen Moment kommt plötzlich die Sonne heraus, als ich meinem üblichen Ritual folgend das Gipfelkreuz der Kanzelwand im Arm halte und glücklich bin über das gerade Erreichte, schickt sie ein paar wenige Sonnenstrahlen zur Erde – grad so, als ob der Himmel aufginge und mir damit etwas sagen wollte. Zum spektakulären Abschluss des Walser Klettersteig-Vormittags bietet Holger dann noch das Abseilen über etwa 20 m Höhe an, was den krönenden Abschluss dieser Erlebnistour bedeutet.

Wir erreichen nach einem kurzen Abstieg über den normalen Bergweg wieder die Kanzelwand-Bergstation und ich verabschiede mich von der Gruppe, denn ich werde nicht wie die anderen mit der Bahn abfahren, ich habe mir vorgenommen, zu laufen. Aber das Wetter verschlechtert sich wieder zunehmend, auch nach einigem Aufenthalt im Bergrestaurant wird es nicht besser, sondern eher schlimmer. Die Sicht ist mittlerweile gleich Null, so dass ich mein Vorhaben leider aufgeben muss und dann doch – wie alle anderen auch – allerdings wesentlich später, die Bergbahn benutze, um wieder ins Tal zu gelangen.

Als ein anderer Mensch kehre ich an diesem Nachmittag vom Berg zurück. Die Stimmung vom Vorabend einer Tour, dem Schwanken zwischen Vorfreude und Zweifel, die sicher jeder kennt, ist einem Gefühl gewichen, bei dem die Eindrücke wie in einer großen Sinfonie gemeinsam klingen. Die Skepsis mit der alpinen Ouvertüre ist wie weggeblasen, ich spüre den Wunsch, dieser Klettersteig möge nicht mein Letzter gewesen sein.

Am Abend entspanne ich auf dem Riezler Gemeindeplatz beim „Alpenzauber“, einem Heimatabend mit ganz viel Tradition, guter Musik und volkstümlichen Vorführungen. Die Trachtengruppe Riezlern gewährt Einblicke in das Leben, die Trachten und die Traditionen der Walser, es werden volkstümliche Tänze und Melodien dargeboten und die Alphornbläser der WaJuBa sorgen für Gänsehautfeeling.  Bei den Vorführungen der Goaßlschnalzer zieht der eine oder andere Gast unter dem großen Schirm dann gelegentlich den Kopf ein – aber diese Darbietung wird mit tosendem Applaus belohnt. Wer sich wirklich für die Walser und deren Leben interessiert, sollte sich diesen Heimatabend auf dem Gemeindeplatz in Riezlern unter’m großen Zeltdach auf keinen Fall entgehen lassen – ein schöner Abendausklang ist es allemal, denn auch für das leibliche Wohl ist bestens gesorgt.

Hier geht’s zu den Bildern:

Galerie