Zeit für Gemütlichkeit – ein ruhiger Tag sollte es heute werden. Dennoch will ich auch heute meinem Bewegungsdrang Raum geben, allerdings gemütlicher und mal einen Gang zurück geschaltet.
Den Vormittag habe ich mit Bummeln in Oberstdorf verbracht und dabei schon den Entschluss gefasst, den Rückweg zu Fuß zu absolvieren. Das Prädikat „besonders aussichtsreich“ verdient dabei der leichte Alpweg ab dem Söllereck. Zunächst wird mein Drang nach Bewegung aber etwas gebremst und die Söllereckbahn als bequeme Aufstiegshilfe benutzt. Gemütlich sitze ich in der Gondel und lasse mich auf den Familienberg ziehen. An der Bergstation in 1.400 m Höhe heißt es Aussteigen und die Schuhe schnüren. Ein kurzer Anstieg am Berghaus am Söller vorbei, dem Wegweiser Richtung Kleinwalsertal folgend, erreiche ich kurze Zeit später die Sennalpe Schrattenwang.
Von da ist es nicht weit, bis ich auf dem breiten Weg ganz entspannt die immer noch an „alte Zeiten“ erinnernde Schranke erreiche und meinen eigenen „Grenzgang“ vollziehe, ganz ohne Ausweis, aber mit offenen Augen und festem Schritt. Während ich nun dem vertrauten Kleinwalsertaler Panorama entgegen laufe, drücken mich meine Einkäufe im Rucksack doch ein wenig und meine Gedanken schweifen einige 100 Jahre zurück, als eben dieser Weg den Walsern als Handelsstraße diente.
Und das kam so:
Die am rechten Ufer der Breitach wohnenden Ansiedler von Riezlern mussten eigene Wege gehen. Ihr jeweiliger „Somstiig“ (Saumsteig) führte nicht direkt vom Kirchdorf Riezlern, sondern wohl um das lawinengefährdete obere „Schmittentobel“ zu umgehen, vom Weiler Unterwestegg aus über die Westegger Alpen (damals noch ganzjährig bewohnte Sölleralpe) nach Kornau und Oberstdorf. Bereits um 1200 wurde der Weg als Viehtrieb über die Westegger Alpen und weiter durch das Kleinwalsertal genutzt. Auch vor der Ansiedelung der Walser war im Tal schon einiges los. Nach ihrer Ansiedelung drängten die taleinwärts liegenden Orte auf Verbreiterung und das Mitbenützungsrecht des Saumsteiges. Und so siegelte im Jahr 1423 der damalige Landesherr von Haimenhofen eine heute noch vorhandene Kaufurkunde, in welcher die Brüder Ulrich, Rudolf und Henni von Haimenhofen, als Söhne des Kunz von Haimenhofen „den erbaren Lüten den Wüstnern gemainklich im Tal zu Mittelberg“ und „den Rüzlern gemainklich“ einen vierzehn Fuß breiten Weg verkauften… . Der Kaufpreis betrug 35 rheinische Gulden und ein „Flädrinkopf“ (geschnitzter Holzbecher). Schließlich wurde so aus einem alten Viehtrieb der nichtwalserischen Besitzer der Alpe Westegg der Walser Landweg – und den Walsern dürfte der Verdienst der endgültigen Urbarmachung zufallen. So ging wohl der meiste Gütertransport ins Allgäu lange Zeit über die genannte Strecke. Die Walser durften fortan den Weg zum Fahren, Reiten, Treiben und sonst wie benutzen, ohne die angrenzenden Zäune, Felder und Bäume zu beschädigen. Auf der Amansalpe, nahe der Ostgrenze, stand ein Wirtshaus. Es wird hauptsächlich den durchziehenden Säumern, mitunter aber auch den von Oberstdorf heimkehrenden Kirchgängern aus Riezlern als Einkehrhütte gedient haben. Der „Theodulhof“ in Unterwestegg mit seinen meterdicken Kellermauern legt Zeugnis ab vom einstigen Umschlagplatz eines regen Saumverkehrs, hier wurden die Schmalz- und Käsefässer den Saumrossen aufgeschnallt und von hier wurden die importierten Güter wie Korn, Salz, Wein u.a. mit zweirädrigen Karren auf dem holprigen Talsträßchen zu den Einzelkäufern gefahren. Einen noch weit größeren Keller besitzt z. B. das Haus von Bernhard Fritz. Einer seiner Vorfahren, nämlich Karl Berchtold, war der wohl bekannteste und größte Säumer und Händler aus dem Kleinwalsertal. So vollzogen sich Handel und Verkehr lange Zeit recht und schlecht auf diesem Wege. 150 Jahre später, um 1570, wurde auf Anregung des damaligen weitblickenden Amanns Peter Keßler der Landweg ausgebaut. Der Ausbau der heutigen Straßenlinie erfolgte dann um 1739, was das Leben der Talbewohner sicher um einiges leichter machte.
Auch ich erreiche bald schon die (leider geschlossene) Amansalpe und bewundere die Wendelinkapelle, die dem Heiligen Wendelin als Schutzpatron der Bauern, Hirten, Landleute, Schäfer und Holzfäller, für Flur und Vieh, gewidmet ist. Und da ich mich ja auf dem Alpweg befinde, stehe ich kurze Zeit später vor der Mittelalpe, wo eine Einkehr lockt. Ich spüre den Geschmack der Bergwiesen auf der Zunge und suche mir auf der Terrasse der Mittelalpe ein gemütliches Plätzchen. Nach der Stärkung ist mir der Besuch eines ganz besonderen Ortes noch sehr wichtig: Das Flurkreuz an der Mittelalpe. Auch hier verweile ich auf dem Boechle (der Bank) unterm Kreuz eine ganze Weile und lasse das wundervolle Kleinwalsertaler Panorama still und leise auf mich wirken – dieser Ort ist ein Ort der Ruhe und inneren Einkehr – ich tanke wieder einmal mehr pure Energie.
Schließlich gelange ich über Oberwestegg und den Schmiedebachtobel wieder nach Riezlern, nicht ohne auch weiterhin all das, was mich umgibt, genussvoll in mich aufzunehmen.
Meine kleine Reise auf den Spuren der Walser auf deren alter Handelsstraße hat mir heute gezeigt, welche Mühen die Talbevölkerung vor 600 Jahren auf sich genommen hat. Heute ist dieser Weg ein schöner Spaziergang, kaum zwei Stunden lang, mit Einkehrmöglichkeiten gespickt und problemlos zu meistern. Was die alten Walser damals geleistet haben, wird mir dann wieder bewusst, wenn die Einkäufe im Rucksack mal wieder drücken.
Die historischen Informationen wurden freundlicherweise vom Ortschronisten Stefan Heim zur Verfügung gestellt. Herzlichen Dank dafür!
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