Von   11. Oktober 2015

Ein ganz spezieller Tag in Klein-Österreich sollte das werden – voller neuer Einsichten. Ich habe mir eigentlich eine kleine Tour im Derratal vorgenommen – unspektakulär und gemütlich, es sollte anders kommen. Ich bin mit dem Walserbus der Linie 1 bis zur Endhaltestelle nach Baad gefahren. Das Kleinwalsertal liegt unter einer dicken Wolkendecke und ich nehme mir vor, nur bis zur mittleren Spitalalpe zu laufen. Eine Herde glücklicher Kühe begrüßt mich neugierig, ich darf erst weiter gehen, nachdem ich ausgiebige Streicheleinheiten verteilt habe. Der Beginn des Weges durch das Derratal ist gemütlich, der Derrenbach verzaubert mit wilder Romantik und irgendwann ist die Brücke über den Bach erreicht, an der der Anstieg zur Alpe beginnt. Der Weg schraubt sich in Serpentinen immer weiter nach oben.

Man könnte meinen, es regnet: Dicke Tropfen sammeln sich im Haar, die Blumen und Gräser am Wegesrand tragen schwer an dem Wasser, welches sich auf ihnen sammelt. Aber nein, es ist kein Regen, es ist der Nebel, der immer tiefer sinkt und mich einhüllt. Klamm ist die Luft und dennoch – dieses Wetter hat einen ganz besonderen Reiz.

Der Nebel um mich herum wird immer dichter, dennoch bleibt die Sicht auf den Weg gut. Ich bestaune wieder einmal mitten im Juli noch große Restschneefelder und bizarre Gebilde aus dem vom Winter übrig gebliebenen Material und komme wie so oft nicht vorwärts, weil ich das alles im Bild festhalten muss. Als ich die Spitalalpe erreiche, ist es noch nicht einmal Mittag, nach meinem guten und reichhaltigen Frühstück ist mir nicht nach Einkehr. Diese Frage stellt sich also nicht, es gilt aber eine Wegentscheidung zu treffen: in 45 Minuten wieder zurück nach Baad oder in etwa 2 ½ Stunden über die Derrenalpe zurück. Nun gut, ich bin gut ausgerüstet, die Regenausrüstung ist dicht, also wähle ich den langen Weg, nicht ahnend, auf was ich mich einlasse. Eigentlich ist es Wahnsinn, einen unbekannten Weg bei diesen Sichtverhältnissen zu gehen, aber jede Zurückhaltung ist heute wie weggeblasen. Das mag an der besonderen Stimmung liegen, die der Nebel zaubert …

Der Weg schraubt sich weiter und weiter nach oben, der Nebel ist dicht, durchfeuchtet mein Haar und zaubert zudem eine mystische Stimmung. Die Faszination Berg leistet ganze Arbeit. Um mich herum ist keine Menschenseele, keinen Hund jagt man bei diesem Wetter vor die Tür, nur so Bergverrückte wie ich gehen bei diesen Verhältnissen unbekannte Wege in den Bergen. Obwohl die Sicht auf den Weg trotz des Nebels gut ist, fühle ich mich, als würde ich hier oben im Nichts laufen.

Plötzlich habe ich das Gefühl, auf dem Kamm angekommen zu sein, die Baumgrenze habe ich längst hinter mir gelassen und im Nebel sehe ich – kaum zu erkennen – eine horizontale Linie, die einem Bergrücken gleicht. Ich bin glücklich, als im Nebel ein Wegweiser auftaucht, kann ich mich doch endlich einmal wieder orientieren und eine Richtung aufnehmen. Ohne es zu merken, habe ich einen kompletten Aufstieg hinter mich gebracht und befinde mich jetzt am Derrajoch in ca. 1.800 m Höhe. Weiche Pfade schlängeln sich durch halbhohen Wildwuchs auf dem mich scheinbar umgebenden Hochplateau. Faszinierende Wasserfälle halten mich gefangen, eine Flora, die mich fesselt und die Natur, die schwer an den Nebeltautropfen trägt.

Irgendwann fällt mir auf, dass ich mich nicht mehr auf geradem Weg befinde, mein Abstieg hat begonnen. Jetzt heißt es aufpassen, natürlich ist es rutschig, der Weg geht zum Teil steil bergab über dickes Wurzelwerk. Aber auch dieser Abstieg ist landschaftlich wieder sehr reizvoll, nur auf den Weg konzentrieren muss ich mich eben, erst recht bei diesen Witterungsverhältnissen. Beständig geht es bergab, bald öffnet sich der Wald und ich erreiche die Viehweide vom Anfang des Weges wieder. Jetzt wird es erst recht rutschig, über die nasse Wiese steil nach unten, von den Kühen zertreten, würde ich jetzt ausrutschen, würde mich der Bus sicherlich nicht mehr mit zurück nach Riezlern nehmen. Also schön vorsichtig abwärts in Richtung des eigentlichen Weges, der grünen Ruhebank entgegen, auf der ich nun erst einmal verschnaufen muss, nicht einmal der feine Nieselregen stört mich, als ich mich auf der Bank niederlasse, um mich von diesem Abenteuer auszuruhen. Die Kühe von heute Morgen schauen sich genau an, wer da schon wieder in ihr Refugium eindringt, ob sie mich wohl noch erkennen? Welche von ihnen war vor ein paar Stunden so fordernd in Bezug auf Streicheleinheiten? Ich weiß es nicht mehr.  Ich folge dem Weg nun wieder Richtung Baad und als ich den großen Parkplatz am Ende der schönsten Sackgasse überquere, hat sie mich wieder, die Kleinwalsertaler Zivilisation.

Schön war es, und auch wenn ich jetzt kleidungstechnisch nicht mehr wirklich „salonfähig“ bin, war das eine völlig neue Erfahrung – mein Weg durch das Nichts. So nennt sich dieser Weg auch im Walser Omgang – und er macht seinem Namen alle Ehre. Hier zählt nur die totale Ruhe, Einsamkeit und das Gefühl der Entschleunigung. Ich jedenfalls habe heute jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren – besser geht es doch nicht für einen richtig entspannten Tag – oder?

Dieser Tag hat mir ganz persönlich gezeigt, wie schön „unser“ Tal auch bei nicht so schönem Wetter ist, geheimnisvoll ist die Umschreibung, die es am besten trifft.

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