Winter – ein Traum in der Ewigkeit
Im Winter des Jahres 2014 habe ich eine neue Sportart für mich entdeckt – das Schneeschuhwandern (siehe dazu auch den Blog „Magische Momente abseits des Rummels – beim regenerativen Schneeschuhwandern“). Von diesem Virus infiziert, kam es wie es kommen musste: Schneeschuhe mussten her.
Der Spätwinter im März 2015 stand dann ganz im Zeichen ausgedehnter Wanderungen mit der Neuerrungenschaft. An diesem schönen Märztag war eigentlich der Winterwanderweg am Hörnlepass geplant – es sollte anders kommen, ganz anders.
Doch zunächst einmal bleibe auch ich brav auf dem gut präparierten Winterwanderweg, beobachte wie schon so oft das Husky-Camp am Hörnlepass und bin ein ganz klein wenig neidisch. Solch einen quirligen Vierbeiner hätte ich jetzt auch gern als Begleiter. Schließlich probiere ich die ersten Tiefschneegänge, sicherheitshalber in Reichweite des gewalzten Weges – das geht prima und macht wirklich Spaß.
Irgendwann hole ich eine Wandergruppe ein, deren Spuren im Schnee ich gefolgt war. Die Überraschung und das Juhu sind groß, als sich diese Gruppe als von Herbert Edlinger geführt erweist. Ein paar fröhliche Worte hin und her, das lustige Geplänkel darüber, wer ab sofort wem die Spur vorgibt, Herberts Hund bekommt auch noch ein paar Streicheleinheiten ab – und weiter geht’s. Schließlich erreiche ich die letzte Bank an exponiertem Aussichtspunkt und damit das Ende des offiziellen Winterwanderweges. Ich nehme mir Zeit für eine Pause.
Ich kenne diesen Platz gut, im Sommer geht es von hier aus weiter durch den Bächteletobel in Richtung Osterbergalpe. Im Winter schläft dort alles, und im Jahr zuvor habe ich schon einmal den Versuch, den Bächteletobel bei meterhohem Schnee zu Fuß zu begehen, verzweifelt, schwitzend und bis zu den Knien im Schnee versunken abgebrochen.
Aber jetzt? Mein Vernunft-Engel scheint heute zu Hause geblieben zu sein, das Abenteuer-Teufelchen hat die Oberhand über mich, als ich es sagen höre: „Auf was wartest du noch? Die Treter wollen ins Gelände und ich auch – und wenn es gar nicht geht, können wir ja wieder umkehren. Was soll schon passieren? Also los jetzt, mach schon, nur ein kleines Stück weit ….“
Und so kommt es, wie es kommen muss. Jede Zurückhaltung ist plötzlich wie weggeblasen. Ich schnalle mir meine hellblauen Wintertreter wieder an, rutsche den Rucksack zurecht, schnappe mir die Stöcke und los geht’s …. Bächteletobel? Diesmal kein Problem. Die wenigen tiefen Trittlöcher, die im Schnee zu sehen sind, sind nun nicht von mir. Kein Schwitzen, kein Fluchen, kein Einsinken im Schnee – ich schwebe auf der Schneedecke, wenn man das so sagen darf. Mit Leichtigkeit lasse ich den Tobel hinter mir, dieser Ort ist so dermaßen verschlafen jetzt, dass ich sogar die Bäume schnarchen höre.
Ok, ein Stück in Richtung Osterbergalpe geht allemal noch, Herbert’s Wandergruppe ist auch noch immer zumindest in Hörweite hinter mir – also was soll’s? Ich bewege mich langsam, lasse die Gruppe in Sichtweite aufschließen und frage kurz nach, ob die nun von mir vorgegebene Spur so einigermaßen in Ordnung sei, was für allgemeine Erheiterung sorgt und einen Daumen nach oben gibt.
Da es inzwischen auf der Ebene weiter geht, ziehe ich das Tempo wieder ein wenig an – schließlich muss ich ja austesten, was geht. Als ich mich das nächste Mal umschaue, ist hinter mir vollkommene Stille – und nur meine eigenen Spuren im unberührten Schnee. Neben mir – vollkommene Stille und Einsamkeit, vor mir – vollkommene Stille und Einsamkeit…. und nichts als unberührter Schnee. Lediglich ein paar Tierspuren sind zu sehen.
Inzwischen hat das Abenteuer-Teufelchen vollkommen die Herrschaft übernommen, ich bin jetzt schon weiter gelaufen als eigentlich geplant. Und dann fälle ich die Entscheidung, die ich bis heute keine Minute bereut habe: Ich bin schon so weit jetzt, jetzt laufe ich die „Osterbergrunde“, im Sommer im Walser Omgang „Entdecke Verborgenes“ genannt und mir von da gut bekannt, komplett durch. Mir ist schon klar, dass der Weg nicht präpariert ist, aber ich weiß aus den Sommerläufen, wo entlang ich mich bewegen muss – und meine himmelblauen Wintertreter bringen mich gut auf der pulvrigen Schneedecke vorwärts.
Immer weiter geht es durch tief verschneite Wälder, ich genieße die Sonne, die gute Luft, die Ruhe und immer wieder neue Aussichten in die Kleinwalsertaler und schließlich auch Oberstdorfer Bergwelt. Irgendwann auf dem Weg in die Stille der Ewigkeit kommen mir zwei Wanderer entgegen, die entnervt und vollkommen erschöpft ihren Ausflugsversuch abbrechen – sie sind mit jedem Schritt weiter im Schnee versunken. Wir kommen ins Gespräch und ich erzähle begeistert, wie gut das alles geht – mit den himmelblauen Wintertretern.
Und schließlich tauche ich ab – ab in die Ewigkeit – ein besonderes Stück Natur, welches wirklich diesen Namen trägt. Jetzt bin ich ganz eins, eins mit mir, eins mit der Natur, eins mit dem Winter – und vollkommen allein. Eigentlich ist es Wahnsinn, ungespurt, nicht präpariert, völlig einsam in der unberührten Kleinwalsertaler „Wildnis“ – und niemand weiß, wo ich mich heute „herumtreibe“. Aber ehrlich gesagt ist mir das in diesem Moment gerade ziemlich egal, denn ich bin einfach nur noch am Genießen – wenngleich ich mich gerade aufgrund der Schwierigkeit des Winterweges in der Ewigkeit (im Sommer leichter zu gehen) schon sehr auf jeden Tritt konzentrieren muss, wenn ich mich nicht selbst in die Ewigkeit befördern will. Deshalb an dieser Stelle ein gutgemeinter Rat: Kennen Sie diesen Weg aus dem Sommer, sind Sie trittsicher, das Wetter stabil und die Schneelage gut und vor allem haben Sie die richtige Ausrüstung dabei, dann kann dieser Ausflug sicherlich ein Besonderer werden, anderenfalls sollten Sie unbedingt auf den Vernunftengel hören!
Ich tauche schließlich irgendwann aus der Ewigkeit wieder in die Zivilisation auf und komme wohlbehalten über Fuchsloch, Schmalzloch und den Straußbergweg wieder an meinem Ausgangspunkt in der Schwende an. Als ich einige Zeit später meinen Freunden von diesem unglaublich schönen Erlebnis berichte, ernte ich allerdings nicht nur ein „Klasse, das war bestimmt ein Traum“, sondern auch das ein oder andere „Du hast `nen Knall.“ Beides stimmt irgendwie. Das Abenteuer-Teufelchen hat mich jede Vorsicht und Vernunft vergessen lassen und mich immer weiter voran getrieben. Okay, das Wetter war stabil, die Schneelage auch und ich kenne den Weg. Meinen Ausflug ins Gelände habe ich also gut überstanden und was noch viel wichtiger ist, ich habe ihn genossen, sehr genossen sogar. Aber ich hätte wenigstens irgendjemanden informieren sollen über mein Vorhaben, damit man im Notfall weiß, wo man suchen muss.
Mit dieser Einsicht und ein ganz klein wenig Asche auf meinem Haupt bleibt eine Erkenntnis: Winter in der Ewigkeit – mit den himmelblauen Winterleisetretern – ist ein Traum, ein Wintertraum, der kein Traum bleiben muss. Hier zählt nur die Ruhe und die Entschleunigung – und das Zu-sich-selbst-finden. Schön war’s – und sicherlich nicht das letzte Mal.