Von   5. Februar 2017

Virus Kleinwalsertal – ansteckend und unheilbar: Mythos oder Wahrheit?

Derzeit kämpfen viele Menschen mit einem Virus. Husten, Schnupfen, Kopf- und Gliederschmerzen, es ist die Zeit der Virusinfekte.

Aber es gibt noch einen anderen Virus, gegen den kein Kraut gewachsen ist und gegen den es keine Medizin gibt: Der Virus Kleinwalsertal. Er ist hoch ansteckend und Heilung ist nicht möglich. Was steckt hinter diesem Virus? Ist er Mythos oder Wahrheit?

Ein Beispiel, wie erbarmungslos dieser Virus zuschlagen kann, ist die Geschichte von Freunden, die vor über 30 Jahren auf der Suche nach einer eigenen Ferienwohnung in der Umgebung rund um Oberstdorf auf Wohnungsbesichtigungstour zufällig ins Kleinwalsertal gerieten. Bisher war die Suche relativ frustrierend gelaufen, aber beim ersten Blick über den Balkon der besichtigten Wohnung in Riezlern hieß es ganz spontan und ohne langes Nachdenken: „Entweder hier – oder gar nicht.“ Der Virus hatte zugeschlagen, sie waren infiziert – schlagartig und ohne Vorwarnung – und das hält bis heute an.

Auch ich bin infiziert – und ja, es fühlt sich unheimlich gut an. Jeder, der diesen Virus bereits hat, weiß dass man ihn nicht wieder los wird. Man merkt nicht, wie er sich überträgt. Er ist ganz plötzlich da. Es braucht keine Bakterien, um diesen Virus zu übertragen, es ist vielmehr ein Gefühl, was ihn ausbrechen lässt. Plötzlich ist man ihm mit Haut und Haar ausgeliefert. So wie die Sonne ausgeliefert ist, täglich ihren Sonnenaufgang zu produzieren oder wie der Regen, der nicht aufhören kann, Wasser in kleinen Tropfen auf die Erde fallen zu lassen. Du hast ihn – und er geht nicht mehr weg, er bleibt als Teil Deines Lebens einfach für immer da.

Symptome? Klar – jede Menge:

  • Entzugserscheinungen (Nervosität und Unruhe bis hin zur Unausstehlichkeit) bei Abwesenheit von mehr als 6 Wochen,
  • Sehnsüchtiger Blick auf die Lieblings-Webcams,
  • Zählen der Tage bis zum nächsten Aufenthalt,
  • Ewiges Sitzen vor der Wanderkarte, um neue Routen auszutüfteln,
  • Stundenlanges Stöbern in weit mehr als 10.000 Fotos, die in den vielen Jahren entstanden sind,
  • Anschauen der zahlreichen selbst gedrehten Videos,
  • Ständiges Putzen der Bergschuhe und Check der gesamten Ausrüstung, usw., usw.

Gegenmittel? Eigentlich keine – einzig und allein Dasein hilft. Doch warum ist das so? Warum hat dieser Virus so eine Kraft? Es ist der in sich selbst geschlossene Mikrokosmos dieses kleinen Fleckchens Erde mit allem, was er zu bieten hat.

Ich selbst sagte vor nun bald 10 Jahren zum ersten Mal: „Es lässt mich nicht mehr los.“ Auch bei mir hatte der Virus Kleinwalsertal sofort mit voller Härte zugeschlagen. Ein oder zwei Aufenthalte im Jahr reichen längst nicht mehr aus, spätestens nach 6 Wochen zieht es mich wieder mit aller Kraft dahin. Bei jedem Besuch in „meinem Tal“ sind meine Gedanken frei, der Kopf ist frei, die Seele ist frei. Die Ketten sind gesprengt. In dieses Tal kommt man nämlich, um zu entdecken. Vor allem sich selbst. Im Tal Balsam für die Seele, auf dem Berg Jubel im Herz. Berge verbinden und Berge verändern Menschen, sie sind Kraftquell, Seelenfänger und Emotionsgeber. Klein und unbedeutend ist die Welt von hier oben, dem Himmel ganz nah. Diese unsagbare Kraft der Natur mit ihren majestätischen Bauten, die über Jahrmillionen hinweg erschaffen wurden, lassen uns Menschen klein und unbedeutend werden mit unseren Alltagssorgen. Aber nicht nur die Berge allein sind es, was das Tal ausmacht. Es ist die Kombination aus Berg und Tal, aus Höhe und Tiefe, aus Luft und Wasser, aus Weite am Gipfel und Enge im Tal. Es ist einfach ein Logenplatz für die Seele.

Und es sind die Menschen, von denen einige im Laufe der Jahre zu wirklichen Freunden geworden sind.

Erlebnisse, die das Herz berühren und Eindrücke, die einem niemand mehr nehmen kann: So zeigt dieses kleine Tal der Walser immer wieder, wie gut es mir tut. Wenn ich über die Walserschanz fahre, durchströmt mich ein unendliches Glücksgefühl, wenn ich das erste Mal nach Wochen der Abstinenz wieder mein geliebtes Riezler Panorama genieße, bin ich endlich wieder Mensch und nicht mehr nur funktionierende Maschine. So gelingt es mir binnen kürzester Zeit immer wieder, den Alltag zu vergessen, ganz viel Kraft zu tanken und die leeren Akkus wieder aufzuladen.

Es gibt so unendlich viel zu entdecken, neue Wege zu finden und Vertrautes immer wieder mit neuen Augen zu sehen. Ich kenne noch längst nicht alle Wege. Der eine oder andere Gipfel wartet noch immer auf einen Besuch, und ich freue mich heute schon darauf, diese Verabredungen bei passender Gelegenheit einzuhalten. Ich kenne dieses Tal in allen Facetten, in Frühlingsbunt, Sommergrün, Herbstgelb und Winterweiß – und es ist immer wieder schön – anders schön. Denn, liebe Leser, glauben Sie mir, die Sichtweisen verändern sich mit steigender Anzahl der Besuche. Anfangs sah auch ich nur das große Ganze, heute sehe ich mehr und mehr Details, die Blumen am Wegesrand, den besonderen Baum, die extravagante Felsformation, die Tiere der Region, die sich oft so gut zu verstecken wissen. Es heißt, sich immer wieder neu zu entdecken, zu sich selbst zu finden und die innere Ruhe von Körper, Geist und Seele im Einklang und dem hautnahen Kontakt mit der Natur zu erleben. Es sind die vielen unvergesslichen Eindrücke, die wirklich zählen.

Doch warum eigentlich, warum in die Berge gehen, wo es doch so anstrengend ist? Aber schnell vergisst man die Frage und geht einfach los. Die Gleichmäßigkeit des Schritts vereinnahmt das Denken – das sind glückliche Momente, weil die Vergangenheit vorüber und die Zukunft weit weg ist, weil die Zeit dann keine Rolle spielt. Es sind besondere Momente, die man mitnimmt, gerade weil man sie sich erarbeiten musste – und sie sind Inspiration, weil man der Stille zuhört, sich ein Wohlfühlgefühl ausbreitet und man das tiefe Gefühl der Verbundenheit spürt. Denn in den Bergen ist Wahrheit, in den Bergen ist Klarheit, in den Bergen ist Freiheit, in den Bergen ist Glück.

In der Schwarzwasserhütte ist der folgende Spruch zu lesen:

„Die Bergsteiger: Menschen die die Berge lieben, widerspiegeln Sonnenlicht – die andren die im Tal geblieben, verstehen ihre Sprache nicht.“ So ist das auch mit denjenigen, die vom Kleinwalsertal-Virus infiziert sind: Nur wer ihn selbst in sich trägt, wird es verstehen.

Ich spüre, dass da eine ganz besondere Macht ist, eine Macht zwischen Himmel und Erde, die rational nicht erklärbar ist, die aber dennoch da ist, stark und mächtig – und mit steigender Dauer immer stärker und immer mächtiger. Sie hat mich in die Arme genommen und aufgefangen und hält mich nun auf sehr angenehme Art und Weise für immer gefangen. Wann immer ich das Tal fühlen, die Berge spüren und die Natur erleben darf, dann weiß ich, ich bin daheim. Dagegen anzukämpfen ist zwecklos, es ausleben ist die einzig sinnvolle Alternative.

Er ist kein Mythos. Es gibt ihn wirklich – den Virus Kleinwalsertal, er ist hoch ansteckend und unheilbar. Und eine vollständige Besserung kann nur durch einen vollständigen Aufenthalt in dieser schönsten Sackgasse der Welt erreicht werden.

Ich wünsche allen, die bereits infiziert sind, KEINE gute Besserung. Hegt und pflegt ihn, diesen Virus, lebt ihn aus, so gut ihr könnt. Alles andere wäre sinnlos – und sehr schade.