Von   19. Februar 2023

Der eingebildete Eiszapfen

Es war einmal ein kleiner Eiszapfen, der lebte in einer Klamm. Dort, wo sich im Sommer das Wasser voller rauschender Dynamik Tag für Tag seinen Weg bahnte, wo die Besucher eine kleine Dusche abbekamen, dort begann die Klamm eines schönen Tages zu erstarren. Klare kalte Nächte und nicht weniger kalte Tage hatten dafür gesorgt, dass sich das Leben in ihr veränderte. Mit jedem kalten Tag und jeder kalten Nacht wurde alles in der Klamm mehr und mehr zu einer bizarren und verzauberten Winterwelt. Das Wasser rauschte zwar weiter, doch der erste kleine Eiszapfen schickte sich an, zu wachsen. Zuerst ganz klein, wurde er im Laufe der Zeit zu etwas ganz Großem. Nachts, wenn es ganz still war, konnte man dem Eiszapfen knisternd beim Wachsen zuhören – und am Tag seine immer wieder neue Größe und Struktur bewundern. Kein Tag war gleich, immer wieder sah er anders aus. Und mit jedem Tag, an dem er wuchs und sich veränderte, wurde er eingebildeter.

„Schaut her, ich bin der Größte. Ich bin so groß, dass ich einen Eisvorhang zustande bringe.“ „Spiel dich doch nicht so auf,“ sagten die anderen Eiszapfen. „Ohne uns wärst du gar nichts, nur ein langweiliges einsames Gebilde aus Eis. Nur weil wir bei dir sind, weil wir uns vereinen, bringen wir den Vorhang aus Eis zustande.“ „Pah, aber ich bin der Größte, ich war zuerst da, ich habe den Grundstein gelegt.“

Die anderen hatten keine Lust, sich mit dem eingebildeten Eiszapfen zu streiten, wussten sie doch, dass sie nur gemeinsam so stark waren, um das zu bauen, was bei den Besuchern der Klamm so unwahrscheinliche Bewunderung auslöste: der große Eisvorhang. Es war ein bizarres Gebilde, was da gewachsen war – und mit ein wenig Phantasie konnte man darin die verrücktesten Formen erkennen. Wer von euch hat nicht auch schon mal versucht, etwas da hinein zu interpretieren?

Doch der eingebildete Eiszapfen war so von sich eingenommen, dass er sich immer wieder in den Vordergrund schob. „Ich war zuerst da, ich habe zuerst mit meiner langen Nase den Boden erreicht, ihr anderen haltet euch alle nur an mir fest. Ich bin es, den die Leute hier am meisten bewundern. Und mit meiner großen Strahlkraft bin ich auch bei den Fackelwanderungen, die hier manchmal am Abend stattfinden, der absolute Hingucker. Ich bin hier der Star.“ So ging das Tag für Tag, Nacht für Nacht, den ganzen Winter hindurch.

„Schluss jetzt,“ versuchte die Klamm den Streit zu schlichten. „Wir sind nur gemeinsam schön. Ein einzelner Eiszapfen macht noch keine verzauberte Landschaft, wir sind nur gemeinsam stark – und gemeinsam schön.“

Nun, da der eingebildete Eiszapfen unter seinesgleichen keine Freunde mehr fand und auch Mutter Klamm mit ihm geschimpft hatte, beschloss er, sich neue Freunde zu suchen. Da kam ihm die Sonne gerade recht, die eines Tages wieder ihre Strahlen in die Klamm schickte. „Du bist genauso glitzernd und funkelnd wie ich, wollen wir nicht Freunde werden?“ „Aber gerne doch,“ sagte die Sonne und legte freundlich ihre Arme um den großen, aber immer noch eingebildeten Kerl. Dem wurde im Laufe der Zeit ganz warm ums Herz. Doch was war das? Zuerst brach ihm seine große Nasenspitze weg – autsch, das hatte weh getan. Sein Stolz und seine Eitelkeit, sein Sich-in-den Vordergrund-drängen, das wurde ihm nun zum Verhängnis. Denn je mehr Kraft die Sonne bekam, wenn sie über die Ränder der Klamm klettern konnte, desto wärmer wurde es ihm. Tropf, tropf, tropf – ganz langsam, aber sicher begann der eingebildete Eiszapfen zu schmelzen, bis er ganz und gar verschwunden war. Er hatte auf die falschen Freunde gesetzt …

Eisige Schönheiten zu bewundern ist ein Highlight des Winterurlaubes im Kleinwalsertal. Auch wenn es kalt ist, niemanden wird die verwunschene Eiswelt kalt lassen. Egal, ob man sie am Tag besucht oder vielleicht doch einen der begehrten (weil etwas raren, da wetterabhängigen) Termine einer Fackelwanderung wahrnehmen kann, es wird immer wieder etwas ganz Besonderes sein. Und vielleicht kann man den Eiszapfen ja auch mal dabei zuhören, wie sie sich darum zanken, wer von ihnen wohl der Schönste sei.

Zum Status der Klamm informiert euch bitte immer vorher hier: https://www.breitachklamm.com/

Besonders im Winter kann es wetterbedingt oder aus Sicherheitsgründen immer wieder auch zu kurzfristigen Schließungen kommen.

Wir wünschen euch viel Spaß mit all den eisigen Schönheiten – und auf dem Nachhauseweg solltet ihr den winterlichen Lauf an der Breitach taleinwärts unbedingt mitnehmen, denn dort kämpfen dann die Eiskristalle um die Gunst und darum, wer wohl der Schönste ist.

Aber das ist wieder eine andere Geschichte …