Von   10. April 2023

Geselliger Flugakrobat und Wetterfrosch – oben zu Hause …

Vor 2 Stunden habe ich das Vogelhaus frisch gefüllt. Jetzt treibt mich wildes Geschrei vom Sofa hoch. Der Blick über den Balkon zeigt: sie sind wieder da – und ich freue mich sehr über diesen Anblick. Erst 5, dann 10, dann 30 oder 40 oder vielleicht noch mehr, sie wirklich zu zählen gelingt nicht mehr. Sie wissen, dass es hier Futter gibt. Inzwischen sind sie zum Teil so zutraulich, dass sie sich sogar aus der Hand füttern lassen.

Wer „sie“ sind? Es mutet an wie eine Szene aus Alfred Hitchcocks Horrorfilm „Die Vögel“ und hat doch so gar nichts mit Horror zu tun. Es ist ein Schwarm Alpendohlen, der sich hier gerade genüsslich über den Inhalt des Vogelhauses hermacht – und die zutraulichsten (oder die frechsten?) von ihnen holen sich ihr Futter aus unseren Händen.

Ihnen zuzuschauen, sie zu beobachten, wie sie am Haus entlang gleiten, sich auf dem Dach oder der Balkonbrüstung niederlassen, sich wieder in die Lüfte erheben und trudelnd aus der Luft auf die Futterquelle stürzen, wie sie sich teils futterneidisch zanken und dann doch wieder einträchtig nebeneinander fressen, macht so unendlich viel Spaß, dass wir uns einmal etwas genauer mit diesen Tieren beschäftigen wollen.

Die Alpendohle dürfte allen Berggängern als treuer Begleiter wohl bekannt sein, der mit seinen beeindruckenden Flugkünsten mühelos jeden Berg umsegelt und allen Winden trotzt. Ihre waghalsigen Flugmanöver fallen dem aufmerksamen Beobachter als erstes auf. Der 35 – 40 cm große Vogel gehört in die Familie der Rabenvögel und ist schon sehr lange bekannt. Bereits 1766 wurde die Alpendohle erstmalig beschrieben und bildet mit ihrer Schwesterart, der Alpenkrähe, eine frühe Entwicklungslinie der Rabenvögel, die nah mit südasiatischen Elstern verwandt sind.

Das mattschwarze Gefieder lässt beim flüchtigen Hinschauen Raben vermuten, doch ihr gelber Schnabel und die hell- bis orangerot gefärbten Beine machen sie unverwechselbar und verraten sie als Alpendohle. Während sie sich im Anflug auf den Ort der Futterquelle befinden, sind sehr charakteristische und unverkennbare Rufe zu hören, ganz so, als wollten sie uns rufen und sagen: „Wir sind da, wir haben Hunger … wo bleibt unser Futter?“ Ihre Rufe sind zirpend und von hellem Charakter gekennzeichnet, melodiöser und sanfter als die der Alpenkrähe und sehr vielseitig, was man durchaus erkennen kann, wenn es gelingt, ihnen eine Weile zuzuhören.

Alpendohlen leben in großen Schwärmen sehr gesellig und sind, wie der Name es bereits verrät, weit oben in den Bergen zu Hause. Sie leben trotz des großen Gruppenverbandes in monogamer Dauerehe. Grundsätzlich sind Alpendohlen oberhalb der Waldgrenze anzutreffen. Sie bevorzugen weitläufige, freie Flächen in alpiner Umgebung: Bergwiesen, gemähte Weiden oder Geröllfelder sowie beweidete Karstgebiete – dort fühlen sie sich im Sommer wohl. Schneebedeckte Flächen werden weitgehend gemieden, Wäldern oder größeren Baumbeständen bleibt die Art in der Regel fern.

Den meisten Menschen dürften die Vögel durch ihre Lebensweise bzgl. der Nahrungsaufnahme auffallen, denn sie sind im Grunde Allesfresser. Sie fressen sowohl Käfer als auch Früchte, fallen aber durch einen großen Opportunismus bei der Ernährung auf und nehmen bereitwillig auch jegliche andere Art von Nahrung zu sich. In schneefreien und wärmeren Zeiten zählen Gliederfüßer und deren Larven, Schnecken und Regenwürmer zum Nahrungsspektrum, im Herbst gewinnen – soweit verfügbar – Steinfrüchte, Beeren und Kernobst an Bedeutung. Auch Heuschrecken machen nun einen Großteil der Nahrung aus. Aber auch Vogeleier, Aas und kleinere Wirbeltiere stehen gern auf dem Speiseplan.

Doch nun wird es spannend. Ein den Alpendohlen eigenes Verhalten macht sie nämlich zu den – ich nenne es mal „Räubern der Berge“. Wo sie an menschliche Abfälle gelangen, werden diese nämlich auch zu einer wichtigen Nahrungsquelle. Wer hat wohl bei einer Pause am Berg diese Situation noch nicht erlebt? Sie kommen angeflogen, lassen sich nieder, pirschen sich an – und schwupps, ist ein Teil der eigenen Brotzeit mitsamt dem Vogel verschwunden. So schnell kann man gar nicht reagieren … Vor allem im Winter, aber auch im Sommer, sind Alpendohlen auch in Menschennähe (beispielsweise Bergstationen der Bahnen, Berggipfel etc.) anzutreffen, wohin sie das Angebot an menschlichen Nahrungsresten zieht. Die hier „erbeuteten“ Nahrungsstücke werden gern regelmäßig in Felsspalten, zwischen Schotter oder unter Dachziegeln deponiert sowie mit Flechten, Steinen oder Holzstücken bedeckt, um sie später wieder aus dem Versteck herauszuholen und zu fressen, für „schlechte Zeiten“ quasi. Auch ich wurde so schon „Opfer“ von Brotzeitdiebstahl – aber hey, kann man ihnen böse sein, weil sie ganz frech einen Teil des eigenen Proviants „abgestaubt“ haben? Ich denke nein.

Und noch etwas macht die Alpendohle zu einem ganz besonderen Tier: sie verfügen über sichere Eigenschaften eines Wetterfroschs und können das Wetter in den Bergen voraussagen. Da sie wie bereits beschrieben eigentlich im Hochgebirge und somit weit oben zu Hause sind, ist es kein gutes Zeichen, wenn man Dohlen im Sommer unterhalb der Baumgrenze antrifft. Denn Kälte vertreibt sie aus den Bergen – im Winter sowieso und auch im Sommer kurzzeitig nach einem Wettersturz. Das Erscheinen von Dohlenschwärmen in den Tälern gilt als sicherer Vorbote von Schneefällen in den Bergen. Andreas Jäger, österreichischer Wetterexperte, studierter Meteorologe und Buchautor, widmet diesem Phänomen in seinem Buch „20 Wetterregeln, die man kennen muss“ eigens ein kleines Kapitel. Hier steht unter anderem geschrieben: „Wenn im Hochsommer ein Wintereinbruch in den Bergen erfolgt, fühlen sich selbst die Dohlen nicht mehr wohl und suchen tiefere Lagen auf. Das ist ein sicheres Indiz, dass den Bergsteiger in den Bergen Kälte und Schnee erwarten.“ Wer also braucht schon den sprichwörtlichen Wetterfrosch im Glas, wenn es doch die Alpendohlen gibt …

Es ist mir nun hoffentlich gelungen, euch den rot gefußten Schwarzrock mit dem leuchtend gelben Schnabel ein wenig näher zu bringen. Leben und leben lassen – sie sind schon länger in den Bergen zu Hause als wir Menschen. Erfreuen wir uns an ihnen und ihren Flugkünsten, wenn wir ihnen begegnen und verzeihen wir ihnen die gelegentlichen kleinen „Diebstähle“ von Teilen unserer Bergbrotzeit. In unserem Futterhaus jedenfalls wird immer eine leckere, abwechslungsreiche und artgerechte Nahrung auf sie warten. Hier können sie sich jederzeit sehr gern die Bäuche vollschlagen.